Die Ver­staat­li­chung des Sterbens

Die Coronakrise hat deutlich gemacht, dass die Schweizer Politik ein gestörtes Verhältnis zum Thema "Sterben" hat. Covid-19 traf zu Beginn des Jahres 2020 auf eine selbstfixierte, gesundheitsmanische, verängstigte Gesellschaft, die den Tod um jeden Preis verdrängt. Panik hatte also ein leichtes Spiel.

Niemand stellte öffentlich die Frage, wann denn für hochbetagte, vorerkrankte Menschen der richtige Zeitpunkt zum Sterben sein könnte. Auch unsere Regierung nicht. Der Bundesrat übernahm angsterfüllt und unkritisch das chinesische Lockdown-Modell und widmete sich fortan dem Kampf gegen Meister Tod. Die Fürsorge um potenziell Todgeweihte explodierte förmlich. Im Rahmen von Medienkonferenzen liessen politisch Verantwortliche immer wieder verlauten: «Jeder Covid-19-Tote ist einer zu viel.»

Die verdrängende Sprachlosigkeit in Bezug auf "Sterben, Tod und Ewigkeit" wurde vom französischen Historiker Philippe Ariès gekonnt in seiner «Geschichte des Todes» dargestellt. (Fussnote 1) Mit scharfem Blick, Humor und Ernüchterung beschreibt Ariès, wie sich Menschen von der Antike bis ins 20. Jahrhundert im Hinblick auf ihr letztes Stündchen verhalten haben. Und wie die Umwelt auf das Unausweichliche des Todgeweihten reagiert hat.

 

Wer den Tod verdrängt, verfällt der Dummheit

Einer der grossen Staatsmänner der Geschichte, Moses, wies darauf hin, dass unser Denken, Planen und Umsetzen der Dummheit verfällt, wenn wir die Realität des Sterbens nicht einberechnen. (Fussnote 2)

Verschmitzt verweist auch Ariès auf das verdrängte Sterben durch Wiedergabe der amüsanten Geschichte eines Todes zu unpassender Zeit. Leo Tolstoi hatte 1859 in «Drei Tode» von den fiktiven Geschehnissen berichtet: «Die Frau eines reichen Geschäftsmannes ist an Tuberkulose erkrankt, wie es sich damals gehörte. Die Ärzte haben sie aufgegeben. Also ist der Zeitpunkt gekommen, sie in Kenntnis zu setzen… Der Ehemann möchte es um jeden Preis vermeiden, seine Frau über ihren Zustand ins Bild zu setzen, und er hat seine Gründe dafür: „Das würde sie umbringen!“» (Fussnote 3)

Tolstois Geschichte spielte im 19. Jahrhundert. Es war eine Zeit, in welcher sich der Schrecken des Todes in der nun "aufgeklärten", westlichen Kultur erneut ausbreitete. Die Aufklärung war in Bezug auf den Tod also nicht etwa ein Fortschritt, sondern eine Rückkehr in die heidnische Antike. Damals fürchteten die Menschen den Tod. Das Ableben war ein Missgeschick. Menschen hatten keine Gewissheit, was sie nach dem letzten Atemzug erwartet. Tote verunreinigten ihr Umfeld und brachten den Lebenden Unglück. Möglichst niemand durfte Verstorbene berühren. Um jegliche Nähe zu umgehen, wurden Begräbnisstätten ausserhalb bewohnter Gebiete angesiedelt. Die Furcht vor Wiedergängern terrorisierte viele Menschen.

 

Das Christentum nimmt dem Tod den Schrecken

Ab dem 4. Jahrhundert n.Chr. veränderte das Christentum den Umgang mit Sterben und Tod radikal. Die Botschaft des vergebenden Gottes hatte dem Tod den Schrecken genommen. Friedhöfe wurden nun in der Nähe der Kirchen innerhalb der Stadtmauern angelegt. Sterben und Tod wurden als gesellschaftlicher Akt integriert. Sterbende wurden nicht nur von der Familie, sondern auch von Freunden und Bekannten aus dem Dorf besucht. Nach dem Versterben wurden die Menschen gewaschen, schön angezogen und aufgebahrt. Nun konnten sie im trauten Heim erneut besucht werden. Die Beerdigung war dann eine laute, oft fröhliche Veranstaltung für Familie und Gemeinde. Die Prozession mit dem Sarg von der Kirche zum Friedhof, vielfach von Musik begleitet, war ein dynamischer Umzug, der das Dorf mobilisierte. Das Totengedenken (Abdankung) bot Gelegenheit, über die Lebensführung der Verstorbenen und die eigene nachzudenken. Danach wurde beim «Leichenschmaus» gemeinsam gegessen, getrunken und palavert. Sterben und Tod gehörten während Jahrhunderten beschwingt mitten in die Gesellschaft.

Mit der Säkularisierung des Westens vollzog sich im 19. Jahrhundert ein entscheidender Wandel. Die Angst vor dem Tod kehrte mit Macht zurück. Ariès konstatiert ein Umsichgreifen der Lüge in Bezug auf das Sterben. (Fussnote 4) Die Ungewissheit war nun wieder in der Kultur. Und die Menschen verlegten sich erneut aufs Verdrängen. Der Tod wurde wieder zum Fehlschlag. Sterben und Tod verloren ihren Platz in der Gemeinschaft der Menschen. Es folgte die längst vergessene, heidnische Verbannung aus der Öffentlichkeit. Der Tod wurde ausgebürgert und nach 1945 stellt Ariès den Übergang zu einer totalen Medikalisierung fest. Sterbende wurden zunehmend aus der eigenen Umgebung ausgelagert und in die Spitäler gesteckt. Das Sterben und der Tod wurden im wahrsten Sinne des Wortes verstaatlicht. «Der Tod gehört nicht mehr dem Sterbenden, auch nicht der Familie, die von ihrer Unfähigkeit überzeugt worden ist. Er wird reguliert und organisiert von einer Bürokratie, die sich bei aller Kompetenz und menschenfreundlichen Absicht nicht daran hindern lässt, den Tod als ihre Angelegenheit zu betrachten.» (Fussnote 5)

Das Covid-19-Virus ist 2020 auf einen säkularen Staat getroffen, der sich zum «Herren des Todes» aufgeschwungen hat, ohne dass er eine Befähigung hätte, Menschen angstfrei und mutmachend auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Die Katastrophe ist perfekt. Gemeinsam mit dem säkularisierten Teil der Kirche hat die Politik nichts zu sagen zum Sterben, ausser ein paar hohle Mitleidsbekundungen. Klar und deutlich war lediglich die Aussage: "Jeder Covid-Tote ist eine zu viel!" 

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1) Ariès Philippe. Geschichte des Todes. 8. Auflage. München 1980.

2) Psalm 90.

3) Ariès, ebd., S. 717.

4) Ebd., S. 723. 

5) Ebd., S. 753.